Tagungsdokumentation „20 Jahre Demokratie in Südafrika: Wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?”

Die Wahrnehmung Südafrikas in der bundesdeutschen Öffentlichkeit hat sich seit den ersten demokratischen Wahlen 1994 grundlegend verändert. Von Armut, Elend, Ungerechtigkeit und fortdauernder Diskriminierung sowie Perspektivlosigkeit vor allem für Menschen schwarzer Hautfarbe ist inzwischen so gut wie gar nicht mehr die Rede. Getrübt wird das klischeehafte Bild Südafrikas einzig durch die Berichterstattung über Ereignisse wie das Marikana-Massaker, der brutalen Niederschlagung eines Bergarbeiterstreiks am 16. August 2012 durch südafrikanische Polizeikräfte. Die tiefer liegenden Umstände, nämlich die fortbestehende und sich noch weiter verschärfende Einkommensungleichheit und die aus dieser ökonomischen Apartheid resultierenden sozio-ökonomischen Verteilungskämpfe, kommen in der politischen Berichterstattung über Südafrika in aller Regel nicht vor. Aus dieser Wirklichkeit Südafrikas ergeben sich entwicklungspolitische Herausforderungen, mit denen sich die Tagung der KASA anlässlich des 20 Jährigen Jubiläums der südafrikanischen Demokratie auseinandersetzte. Die Tagung fand in Kooperation mit Brot für die Welt und KOSA vom 16. zum 17.10. in Berlin statt.

Demokratie ohne ökonomische Transformation?

Liepollo Lebohang Pheko eröffnete die Konferenz und frage in ihrem Vortrag nach der ökonomischen Dimension der Apartheid und der Folgen neoliberaler Anpassungspolitik in Südafrika. Sie arbeitet seit über 15 Jahren als soziale Aktivistin und Unternehmerin, politische Analystin, Kommentatorin und freiberufliche Schriftstellerin. Pheko verändert dabei die Debatte, in dem sie aus dem Blickwinkel afrikanischer feministischer Theorien auf Themen wie Handel, Transformation oder sozio-ökonomische Gerechtigkeit schaut, was auch Einfluss auf ihre Arbeit mit Frauengruppen hat. Dabei geht Pheko davon aus, dass Frauen in besonderer Weise von den globalen ökonomischen Entwicklungen der letzten Dekaden ausgeschlossen sind. Besonders afrikanische Frauen sind allein schon aufgrund ihres Geschlechts – neben anderen Faktoren wie Rasse, Hautfarbe, Ethnizität, Bildung oder Klasse – statistisch gesehen die Verliererinnen der neoliberalen Globalisierung.

In Südafrika wurde bis zu Beginn der Finanzkrise das hohe Wirtschaftswachstum von durchschnittlich fünf Prozent als großen Erfolg gefeiert. Und obwohl sich das Land von der politischen Apartheid befreit hat, transformierte es sich in einem Kontext globaler Ökonomie, die sich als alternativlos bezeichnete und die Mehrheit der Menschen auf der Welt vom erzeugten Reichtum ausschließt. Auch Südafrika mochte dem nichts entgegen zu setzen und so vertiefte das neoliberale Wirtschaftssystem die Kluft zwischen Arm und Reich. Pheko beschrieb den oft zitierten friedlichen Wandel in Südafrika als erkauften Kompromiss, in dem die Bewahrung der Besitzverhältnisse und der Schutz des Privateigentums festgeschrieben worden waren. Schaut man genauer in die südafrikanische Gesellschaft, so zeigt sich, dass die Erfolge, vor allem im Bereich Soziale Sicherung und Wirtschaftswachstum für unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Auswirkungen hatte. Denn obwohl die absolute und relative Einkommensarmut seit dem Jahr 2000 abgenommen haben, hat die Einkommensungleichheit im gleichen Zeitraum stark zugenommen. Zwar haben immer mehr Menschen Zugang zu Sozialleistungen, doch ist dieses Mittel auf lange Sicht keine Lösung für die gesellschaftlichen Probleme des Landes, hilft es doch nachweislich nicht, die Menschen aus der Armutsfalle herauszubekommen und ihnen alternative Möglichkeiten zu bieten. Die Hohe Zahl der Empfänger von Sozialleistungen zeigt, dass der Staat es nicht geschafft hat, die Strukturen so zu transformieren, dass die Benachteiligten des Apartheidsystems ihren gerechten Platz finden, um emanzipiert ein Leben in Würde führen zu können. Dies wird besonders im Versagen des Bildungsbereichs deutlich, das mitverantwortlich für die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit ist. Und auch dort, wo Arbeitsplätze entstehen, gibt es unter den aufgrund des Kolonialismus und der Apartheid benachteiligte Gesellschaftsschichten nur selten Menschen mit den erforderlichen Qualifikationen, um sie einzunehmen. Einerseits verpuffen viele Regierungsprogramme zur Förderung der Beschäftigung in der formellen Ökonomie und andererseits entsteht eine Parallelökonomie, in der immer mehr Menschen zu überleben versuchen, ohne dass dies vom Staat wahrgenommen und gefördert werden würde. Was Südafrika nach Pheko braucht ist ein Wachstumsimpuls, der an den Sektoren ansetzt, die für die Mehrheit von Bedeutung sind und der Lage ist, langfristige Arbeitsplätze zu schaffen und so den ausgeschlossenen Menschen auch eine Zukunftsperspektive ermöglichen. Es bleibt die Frage zu diskutieren, welche ökonomische Basis für Südafrika von Nöten ist, um eine konsequente Transformation der Gesellschaft zu ermöglichen, in der dann alle BürgerInnen auch in den Genuss der verfassungsmäßig festgelegten Rechte kommen. Für Pheko ist es höchste Zeit, aus einer wachstumsorientierten eine Menschenzentrierte Wirtschaft zu gestalten.

Politische Landschaft und Stand der südafrikanischen Demokratie nach 20 Jahren

In ihrem zweiten Vortrag ging Pheko auf die Wahlen 2014 und die Zukunft der Demokratie in Südafrika ein. Besonders interessant in der Analyse der diesjährigen Wahlen waren die neuen Akteure in der politischen Landschaft (Economic Freedom Fighter EFF, Agang South Africa), die Streiks der Minenarbeiter, die Krise des Gewerkschaftsverbands COSATU und die „vote no campaign“ auch aus den Reihen der Regierungspartei selbst. Die zum Teil unrealistischen Forderungen der EFF waren insofern zentral, als sie sozio-ökonomisch Fragen an die Zukunft Südafrikas thematisierten. Aufgrund der Hauptforderung im Anti-Apartheidkampfes für das Wahlrecht der schwarzen Bevölkerung (one man one vote) stieß die „vote no campaign“ auf großes Unverständnis, zeigte aber gleichzeitig, wie tief verunsichert große Teile der Gesellschaft sind: Da es anscheinend keine Alternative zum ANC gibt, war für viele eine ungültige Wahl oder nichtwählen die einzig akzeptable Option. Hinzu kommt, dass die Ereignisse von Marikana noch nicht aufgearbeitet worden sind und ihre Implikationen für die südafrikanische Gesellschaft noch reflektiert werden müssen. Die Krise der COSATU, hervorgerufen durch die Entscheidung der Metallarbeitergewerkschaft NUMSA, sich gerade im Wahlkampf vom ANC zu distanzieren, zeigt beispielhaft die Entfremdung von Institutionen, die sich von denen entfremdet haben, die sie zu vertreten behaupten. Trotz Gründung neuer politischer Parteien ist das Vertrauen in politische Parteien verschwunden. Der ANC hat zwar mit 62,1 Prozent immer noch eine Mehrheit im Parlament, verlor aber gegenüber den Vorwahlen an Boden. Die größte Oppositionspartei Democratic Alliance DA ist für viele Schwarze aufgrund ihrer Apartheidvergangenheit nicht. Aus dieser Grundlage schloss Pheko die Notwendigkeit, dass sich die BürgerInnen ihre demokratischen Institutionen wieder aneignen. Dafür müssen sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die Kirchen und NGOs, die nach dem ersten überwältigenden Wahlsieg des ANC 1994 entpolitisiert wurden, neu mobilisieren und politisieren. Selbst Universitäten und Jugendbewegungen hatten ihre kritische Rolle verloren, viele Aktivisten und Mitarbeitende wurden von staatlichen Stellen kooptiert. Jetzt ist es an der Zeit, einen neuen Aufbruch zu wagen und besonders auch eine radikale revolutionäre Intelligenzija zu formieren, um die Demokratie zu beleben.

Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung

Der zweite Teil der Tagung widmete sich konkreten Lebensrealitäten und konkreten sozialen Bewegungen, die sich in Südafrika für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Thomas Mnguni wohnt in der durch Kohleabbau besonders verschmutzten Highveld-Region in Südafrika und ist Mitglied der Greater Middleburg Residents Association. Der Community-Aktivist arbeitet eng mit der südafrikanischen Umweltorganisation Groundwork zusammen, die ihren Sitz in Pietermaritzburg hat.

Mnguni beschrieb in seinem Beitrag anschaulich die Lebensbedingungen der Gemeinschaften, die in der Nähe eines Kohlekraftwerks leben. Nicht nur, dass die wenigsten Arbeit in diesen Werken finden, ihre Lebensgrundlagen in der Fischerei oder in der Landwirtschaft sind nachhaltig durch die massive Umweltverschmutzung zerstört. Am deutlichsten wurde dies durch die Debatte um frisches Wasser und Zugang zu Strom. Gerade die Menschen in direktem Umfeld von Kraftwerken haben weder theoretisch durch entsprechende Infrastruktur Zugang zu Elektrizität noch könnten sie es sich finanziell leisten. Sauberes Wasser wird zwar für die Industrie, nicht aber für die Bevölkerung vorgehalten. Und Umweltstandards, Auflagen für Filteranlagen oder ähnliche Schutzmaßnahmen werden von den Firmen umgangen und von den Regierungsverantwortlichen nur schleppend eingefordert – meist mit der allbekannten Begründung, dass diese Firmen für das zur Armutsbekämpfung so wichtige Wirtschaftswachstum sorgen würden. So laufen Proteste sozialer Bewegungen oft ins Leere, müssen Menschen erst sterben, bis Maßnahmen getroffen werden.

Am Beispiel Kohle verdeutlichte Mnguni, dass die Bevölkerung in keinster Weise vom
Ressourcenreichtum profitiert und es für die armen Bevölkerungsschichten derzeit durchaus besser wäre, wenn die Kohle im Boden bliebe. Dann nämlich hätten sie es mit weit weniger Umweltzerstörung zu tun. Auch was Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern angeht, wurde ersichtlich, dass diese Art von Wirtschaft den Kindern in der Highveld-Region mehr Schaden in Form von lebenslangem Asthma zufügt als ihnen Zukunftschancen eröffnet werden.

Der Kampf ums Überleben in einer Demokratie am Beispiel des Massakers von Marikana

Nomarussia Bonase wurde als Kind selbst Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Apartheidzeit und engagierte sich früh im Widerstand, bevor sie Mitglied der Khulumani Support Group wurde. Khulumani ist mit rund 90.000 Mitgliedern wohl die größte Organisation von Apartheid-Opfern in Südafrika, welche die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen des Apartheidregimes verfolgt.

Mit diesem Hintergrund und den Erfahrungen der Opfer, die nur durch Selbsthilfe und fast ausschließlich ohne staatliche Unterstützung von Opfern zu Überlebenden und zu aktiven BürgerInnen der Gesellschaft werden, organisierte Khulumani die Hinterbliebenen des Marikana-Massakers in 2012. Sie ermöglichte ihnen zum einen die Teilnahme an der von der Regierung eingesetzten Untersuchungskommission und organisierte zum anderen Trauma-Healing-Workshops, ums sie in der Aufarbeitung des Geschehenen nicht alleine zu lassen.

Denn die Erfahrungen der Apartheidopfer zeigen, dass sich ihre wirtschaftliche und soziale Situation nicht verbessert hat, dass die Regierung kaum Anstrengungen unternommen hat, um diesen Umstand zu verändern und dass gesellschaftlich ein schwindendes Interesse besteht, sich dem Erbe der Vergangenheit zu stellen. Die Chancen, die das neue Südafrika schafft, sind nur für einen kleinen, privilegierten Teil der Gesellschaft nutzbar. Es fehlt an Plattformen, auf denen die Menschen ihre Bedürfnisse formulieren und Lösungsansätze diskutiert werden können. Umso wichtiger auch die internationale Solidarität, so Bonase, die den Heilungsprozess in Gang setzt: sich artikulieren und gehört werden ist der Anfang, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Der deutsche Beitrag zur ökonomischen Transformation Südafrikas

Auf dem abschließenden Podium diskutierten Dr. Sandy Harnisch vom Referat Südliches Afrika des BMZ sowie Karin Döhne, Leiterin der Abteilung Afrika bei Brot für die Welt mit Liepollo Pheko darüber, was in Deutschland passieren muss, damit sich in Südafrika etwas ändern kann. Frau Döhne ging dabei auf die Frage ein, wie sich die Politik verändern müsse, um Armut langfristig zu verringern und welche praktische Unterstützung die Zivilgesellschaft braucht, um dies zu befördern. Gleichzeitig betonte sie die Rolle der Kirchen in diesem Prozess. Frau Harnisch betonte zunächst die Erfolge, die in 20 Jahren der Demokratisierung in Südafrika bereits erreicht worden waren und lokalisierte die Herausforderungen besonders im Bereich Energie und Klima und HIV/AIDS. Frau Pheko stelle die Frage in den Raum, von welcher Zivilgesellschaft überhaupt geredet wird, wer die Partner auswählt und wie die Projekte überhaupt zustande kämen. Welche progressiven Institutionen werden gefördert? Hierauf nahm auch Thomas Mnguni Bezug in seiner Frage, wie sowohl das BMZ als auch die deutschen entwicklungspolitischen Organisationen die neuen sozialen Bewegungen unterstützen und in ihre Arbeit mit einbeziehen würden.

Die Frage nach der Kohärenz von Entwicklungspolitik mit anderen Politikfeldern der internationalen Kooperation wie Handelspolitik und Finanzmarktpolitik konnte nur kurz aufgegriffen werden, weil Frau Harnisch, darauf hinwies, zu diesen Fragen nicht zu arbeiten, weil sie beim BMZ in anderen Abteilungen untergebracht sind.

Insgesamt wurde der Tagung ein hohes Maß an Kompetenz der ReferentInnen bescheinigt. Die Mischung aus analytischen Beiträgen einerseits und Erfahrungen aus der Praxis mit einem hohen Maß an sachlichem Wissen andererseits wurde honoriert. Von den rund 40 Teilnehmenden, die sich nicht von Bahnstreiks hatten abschrecken lassen, wurde ebenfalls begrüßt, dass es genügend Zeit für Vernetzung und Diskussion zwischen den Programmpunkten gab, die besonders fruchtbar für eine weitergehende Arbeit seien.