Nachdem wir als KASA Team bei der letzten Dienstreise in Namibia den Paramountchief und Vertreter:innen der OvaHerero Traditional Authority (OTA) treffen konnten, waren wir in diesem Jahr zu Gast bei den Gedenkfeiern der Nama Traditional Leaders Association (NTLA). Beide Organisationen sind Teil des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht“, in dem wir uns für eine vollumfängliche, juristische Anerkennung des Genozids, für daraus folgende Reparationszahlungen sowie für eine Entschuldigung seitens des deutschen Staates einsetzen.
Shark Island: Sonnenaufgang
Es ist der 12. April 2025 kurz vor Sonnenaufgang, auf den Tag genau 132 Jahre nach dem Massaker von Hornkranz, bei dem deutsche Soldaten das komplette Dorf des Nama-Führers Hendrik Witbooi ausgemerzt haben. Eine kleine Gruppe von offiziellen Vertreter:innen der NTLA versammelt sich vor dem Grabmal des dort ermordeten Gaub[1] Cornelius Fredericks. Hier, auf Shark Island, errichteten die Deutsche Kolonialmacht ein Konzentrationslager, in dem Kriegsgefangene der OvaHerero und Nama gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Selbst nach dem Tod endete die Gewalt nicht – ihre Leichname wurden geschändet und entwürdigt.
Am höchsten Punkt der Insel erhängten sie für alle sichtbar die Anführer. Später zwangen die Kolonialherren die Frauen, die Schädel der Ermordeten auszukochen und zu säubern, um sie für medizinische und pseudowissenschaftliche Forschungen nach Deutschland zu verschiffen. Viele dieser Schädel lagern bis heute in Museen, in der Berliner Charité oder befinden sich in Privatbesitz. Diese zutiefst traumatischen Erfahrungen wurden von den Überlebenden an die nächsten Generationen mündlich überliefert und prägen die Nachfahren bis heute.
Der Urenkel von Gaub Fredericks trägt den gleichen Namen und ist selbst inzwischen Gaub in Hoachanas. Er erzählt uns, wo die einzelnen Hütten des Grauens platziert waren – unweit des roten Leuchtturms, den man heute als Ferienwohnung buchen kann. Bevor mein Kollege und ich am nächsten Tag nach Windhoek zurückfahren statten wir Shark Island einen weiteren Besuch ab. Die (Halb)Insel ist heute über einen befestigten Damm mit der Stadt verbunden. Wir suchen nach Spuren aus der Vergangenheit. Das weithin sichtbare Genozid-Denkmal, errichtet nicht vom namibischen Staat, sondern von der NTLA, ist nur eines von mehreren Zeugnissen, die an die Zeit des Genozids zwischen 1904 und 1908 erinnern. Die Plattform, auf der wir standen, ist umgeben von einer Mauer mit Gedenktafeln für deutsche Soldaten, die irgendwo im Krieg gefallen sind. Eine Bronzeplakette ehrt den Namensgeber der Stadt selbst - den betrügerischen Bremer „Kaufmann“ Adolf Lüderitz . Die Erinnerung an die Täter ist so alt wie die Tat selbst. Die Opfer hingegen und ihre Nachfahren mussten und müssen sich das Gedenken mühsam und unter großen Opfern erkämpfen.
Während wir auf den Sonnenaufgang warten, wird uns durch Gaub Dawid Hanse vor Augen geführt, welche Bedeutung diese Insel für die Erinnerungskultur der Nama und OvaHerero hat: „Wenn der Hafen erweitert wird, können wir hier nicht mehr auf den Sonnenaufgang warten, wir werden ihn nicht mehr sehen. Wir werden nicht mehr mit unseren Vorfahren in Kontakt treten können, die Deutschen werden ein weiteres Mal unsere Kultur, unsere Seele zerstören.“
Gaub Hanse, stellvertretender Vorsitzender der NTLA, bezieht sich auf das geplante Wasserstoffprojekt, für das Nama wieder Land verlieren könnten und für das der Hafen von !Nami#Nus[2] erweitert werden müsste, damit der Wasserstoff nach Deutschland transportiert werden und dort für eine grüne Bilanz unserer energieintensiven Stahlindustrie sorgen kann. Gleichzeitig könnte das Projekt eine immense Verschuldung für den namibischen Staat mit sich bringen, dessen Auswirkungen langfristig die Bevölkerung tragen muss – zulasten etwa von Sozialausgaben. Eine Re-Traumatisierung für die Nachfahren der Opfer des Genozids durch ein neokoloniales Projekt der ehemaligen Tätergesellschaft, die sich bis heute weigert, Schuld anzuerkennen und Verantwortung etwa in Form von Reparationen zu übernehmen.[3]
Der pensionierte lutherische Pfarrer Hatani Kisting und der Posaunenchor spielen Hymnen, die daran erinnern, dass auch die deutschen Missionare hier unwiederbringliche Spuren hinterlassen haben. Später in seiner Predigt wird er das Dokument[4] von König Leopold II. von Belgien an die Missionare im Kongo zitieren: Die tatsächliche Rolle der Missionierung ist die Vorbereiter der Ausbeutung, der Zerstörung und des Genozids. Als lutherischer Pfarrer steht Kisting in dieser Tradition und spricht das Dilemma direkt an wie können wir mit diesem Wissen, mit dieser Geschichte noch Christ:innen sein?
Diese gemeinsame Stunde auf Shark Island, zu der wir von der NTLA explizit eingeladen wurden, bringt mir die Schuld und die Verantwortung, die ich als Nachfahrin der Täter habe, emotional näher, als jeder Text es vermag. Das Erleben der Bedeutung dieses Ortes in dieser Stunde zwischen Nacht und Tag, die aus dem Atlantik aufsteigende Kälte, macht die Notwendigkeit umso spürbarer, über die KASA aktiv an Gerechtigkeit und an der Frage nach Reparationen weiterzuarbeiten.
Gedenken und Erinnern
Inzwischen haben sich viele Nama am Sportplatz von !Nami#Nus für den Zug durch die Stadt versammelt. Angeführt von den Gaubs mit einem Banner, folgen in losen Gruppen die Familien, die ihre jeweilige Zugehörigkeit durch Farben und Flaggen zum Ausdruck bringen. Manche tragen Schwarz als Zeichen der Trauer, andere traditionelle Patchwork Kleidung, deren Ursprung im Genozid liegt.
Sima Luipert, die selbst bei offiziellen Besuchen ihre traditionelle Kleidung trägt, schreibt dazu: „Nachdem das Volk der Nama aus den Konzentrationslagern des Völkermords entlassen worden war, hatten sie nur noch Lumpen am Leib. Die Frauen begannen, diese Lumpen zu sammeln und sie zu Tüchern zusammenzunähen, um die Körper ihrer Kinder, ihrer Ehemänner und sich selbst zu bedecken. Nachdem ihnen ihre Würde und Menschlichkeit durch Vergewaltigung, Folter und das Abschaben von Schädeln genommen worden war, mussten sie wieder lernen, ihren Körper zu bedecken. Jeder Fetzen, den sie fanden, war gut genug, solange er ihren Körper bedecken konnte. Heute sind diese Patchwork Stoffe zu einem politischen Statement geworden. Sie stehen für einen Prozess der Selbstreinigung als Frau, sie stehen für Widerstandsfähigkeit, eine Art futuristische Verwurzelung, einen Ausdruck von Feuer, Kraft und Dynamik. Es steht für die Kraft der Sinnlichkeit und Sexualität. Das Nama-Kleid ist eine Forderung nach der Wiederherstellung der Würde, eine Behauptung des Rechts, sinnlich und sexuell zu sein. Vergewaltigungen haben unsere Frauen ihres Frauseins beraubt und versucht, sie in Tiere zu verwandeln. Durch farbenfrohe Kleider, die aus verschiedenen Stoffen bestehen, drücken wir unsere Freiheit aus, so zu sein, wie wir sind, zeigen unsere Identität.“
Sobald der Zug auf die Inselstraße einbiegt, ändert sich die Stimmung in einen Trauermarsch und endet in zwei großen Zelten, in denen ein Gottesdienst stattfindet.
Anschließend versammeln wir uns an der Mauer, die zum steinigen Strand führt – wohlgemerkt, Shark Island wird nach wie vor als Campingplatz genutzt – und warten auf die Performance, die Sima Luipert seit Tagen mit dem togoischen Tänzer Anani Sanouvi vorbereitet hat. Es ist die Geschichte von Simas Urgroßmutter - zugleich vieler Frauen. In der Erzählung wird die Verzweiflung hörbar, das Grauen, das sie durchleben mussten. Einige von ihnen sahen nur einen einzigen Ausweg: den Sprung in den kalten Atlantik. Anani verleiht diesem Schmerz, der Verzweiflung einen Ausdruck, macht sie sichtbar. Am Ende kniet er vor Sima – sie reicht ihm die Hand.
Später setzt sich das Fest im Maritim Museum fort- dort, wo in den Tagen zuvor bereits ein Jugendkongress der Nama stattgefunden hat. Valerie Isaaks, die Entertainerin ist zugleich Übersetzerin und weist uns weiße Gäste an, zu lachen, wenn sie lacht. Oft können wir nur erahnen, worum es gerade geht. In einem beiläufigen Nebensatz – „Ihr braucht keine Sorge haben, wir lachen nicht über euch“ – verdeutlicht sie uns unsere unbedeutende Rolle an diesem Tag. Aus Höflichkeit jedoch, wird weiterhin ins Englische übersetzt. Mindestens fünf Mal singen wir die Hymne der Nama. Valerie spricht jede Verszeile in den Gesang hinein. Die Begeisterung und Verbundenheit unter den Anwesenden sind spür- und sichtbar.
Sie pflegen ihre Traditionen, bewahren sie und geben sie an die nächste Generation weiter – damit die Erinnerung an ihre Kultur, an die Nation, die sie innerhalb Namibias verkörpern, lebendig bleibt. Ebenso soll das Gedenken an den leidvollen Weg, den sie als Gemeinschaft und als Einzelne gegangen sind, nicht verloren gehen. Diese Erinnerung verleiht ihnen Kraft, eine selbstbewusste Rolle in der Gesellschaft einzunehmen – auch dann, wenn sie infolge des Genozids zahlenmäßig und wirtschaftlich geschwächt erscheinen mögen.
[1] Gaub ist die Bezeichnung der Nama für ihre Chiefs.
[2] Nama-Name für Lüderitz
[3] Mehr über das Wasserstoffprojekt etwa hier: https://www.medico.de/blog/wasserstoff-aus-der-wueste-19576
[4] https://www.fafich.ufmg.br/~luarnaut/Letter%20Leopold%20II%20to%20Colonial%20Missionaries.pdf Euer Hauptziel bei unserer Mission im Kongo ist es niemals, die N*** zu lehren, Gott zu kennen, das wissen sie bereits. Evangelisiert sie, damit sie für immer in der Unterwerfung unter die weißen Kolonialisten bleiben, damit sie sich nie gegen die Zwänge auflehnen, denen sie ausgesetzt sind.“