Afrika neu denken 2020: 60 Jahre Unabhängigkeit. Eine kritische Bilanz

„Afrika neu denken 2019“ hatte sich mit dem Thema „Komplizierte Beziehungen – Afrika und Europa 25 Jahre nach Ende der politischen Apartheid“ befasst. Im Zentrum stand damals Südafrika, wo sich viele postkoloniale Kämpfe verdichten, die für die Beziehungen zwischen Afrika und den ehemaligen Kolonialmächten nach wie vor relevant sind. Des Weiteren wurde 2019 herausgearbeitet, dass die südafrikanischen Erfahrungen und Diskurse neue Perspektiven und Fragen für die Afrika-Beziehungen in Deutschland und in Europa öffnen. Ausgehend von dieser Erkenntnis kann „Afrika neu denken 2020“ thematisch als logische Fortsetzung dieser Auseinandersetzung betrachtet werden. 2020 jährte sich zum sechzigsten Mal der Jahrestag der Unabhängigkeit 17 afrikanischer Staaten von ihren früheren Kolonialmächten.

Eine Veranstaltungsreihe unter Pandemie-Bedingungen

Aufgrund des coronabedingten Lockdowns mussten wir vom gewohnten analogen Raum zum virtuellen wechseln. Aus dem bisherigen zweitägigen Veranstaltungsformat haben wir drei aufeinander aufbauende Abendveranstaltungen organisiert, die unter politischen, ökonomischen und psychoanalytischen Gesichtspunkten eine Bilanz der 60 Jahre Unabhängigkeit zog.

Die erste Veranstaltung fand am 30. Juni 2020 statt, am Unabhängigkeitstag der DR Kongo. PLO Lumumba, Jura-Professor und Leiter der nach ihm benannten Stiftung, nahm die Teilnehmenden in seinem Vortrag „Träume der Väter und Mütter der Un-Abhängigkeiten und afrikanische Wirklichkeiten heute“ auf eine Reise durch sechs Jahrzehnte afrikanischer Geschichte seit 1960 mit. Die Visionen legendärer Führer der Unabhängigkeitsbewegungen wie Kwame N´Krumah (Ghana), Modibo Keita (Mali) oder P.E. Lumumba konfrontierte er mit aktuellen Entwicklungen auf dem Kontinent. Neben den zahlreichen Herausforderungen, wie fehlender politischer Stabilität, wirtschaftlicher Abhängigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Korruption, mit denen sich die Länder des Kontinents konfrontiert sehen, unterstrich er auch die Potentiale des Kontinents: die natürlichen Ressourcen, die junge Bevölkerung, ein neues Bewusstsein bei einem Teil der führenden politischen Eliten. Es bedarf aus seiner Sicht mehr Anstrengungen vor allem in der Bildung und in regionalen Integrationsprozessen, um diese Potentiale zur vollen Entfaltung zu bringen.

An diese Herausforderung knüpfte der zweite Vortrag an. Der senegalesische Entwicklungsökonom und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Westafrika, Dr. Samba Ndongo Sylla, referierte über „Sechs Jahrzehnte nominaler Unabhängigkeit (1960-2020): Zeit für die afrikanischen Völker, ihre wirtschaftliche und monetäre Souveränität zurückzuerobern“. In seinem sehr faktenbasierten Vortrag favorisierte er eine Leseart afrikanischer Unabhängigkeiten, die in der Frage mündete, ob die Unabhängigkeiten (und das Ende der Apartheid in Südafrika in den 1990er-Jahren) zum Erreichen eines signifikanten Grades politischer Selbstbestimmung auf dem Kontinent und zur allmählichen Beseitigung aller Faktoren geführt hat, welche ein menschenwürdiges Leben in egalitären Gesellschaften in Afrika beigetragen haben. Seine klare Antwort lautete, dass die Post-Unabhängigkeitsära trotz einiger quantitativer Errungenschaften es noch nicht geschafft hat, dem kolonialen Wirtschaftsmodell ein Ende zu setzen. Die Ökonomien des Kontinents sind nach wie vor extravertiert und vom ausländischen Kapital dominiert.

Die dritte Veranstaltung befasste sich mit der Notwendigkeit, sich von fremden Konstruktionen und von der Abwertung der eigenen „kulturellen und epistemischen Koordinationssysteme“ (Felwine Sarr) durch Kolonialismus und dessen Fortsetzung zu befreien, um ausgehend von selbstbestimmten Wahrnehmungen, die Machtbeziehungen und die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der Gegenwart herausfordern zu können. Mit dieser Notwendigkeit einer Dekolonialisierung der Vorstellungskraft, um die Potentiale entfalten zu können, befasste sich Koketso Moeti von Amandla.mobi. Der zweite Referent des Tages Prof. G. Nzongala konnte aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht mitwirken.

Chancen und Grenzen der Online-Veranstaltungen

Das Vorbereitungsteam sah die Möglichkeit einer digitalen Durchführung der Reihe als Chance an, Kontakte und Vernetzungen mit Partnerorganisationen zu pflegen. Aus diesem Grund fanden alle drei Veranstaltungen auf Englisch statt und wurden über die Kanäle der Partnerorganisationen, auch in Afrika, beworben. So konnten Fragestellungen und Perspektiven aus dem afrikanischen Kontinent stärker als bisher in die Diskussionen einfließen, denn jenseits der Referent*innen konnten sich Interessierte aus verschiedenen Ländern beteiligen. Aber die Online-Formate zeigten auch ihre Grenzen: Die Unwägbarkeiten der Technik haben manche Interessierte bei der Anmeldung oder bei der Durchführung ausgesperrt, die Kommunikationskultur leidet unter den Standards, die die Tools zulassen und die Vernetzung, die bei analogen Veranstaltungen oft im informellen Rahmen stattfindet, fällt hier aus. Gerade die beiden letzteren Aspekte stehen normalerweise bei „Afrika neu denken“ im Zentrum.